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[Übersicht der Interviews]
Esthetic Pale
'... Käse zum Schmilzen bringen ...'
Nachdem in der letzten Ausgabe von Jester's News die selbstfinanzierte und eigenvertriebene CD von ESTHETIC PALE im Demo-Check besprochen wurde, ging für mich kein Weg daran vorbei, diese ungewöhnliche Band einmal näher zu beleuchten. Was interessant zu werden versprach, entwickelte sich zu einem der ausführlichsten und informativsten Interviews, das ich je geführt habe. Endlich mal ohne Zeitdruck am Telefon ergab sich ein außergewöhnliches und lockeres Gespräch. Doch lest selbst ...
? ESTHETIC PALE ist eine ungewöhnliche Band. Wie würdet ihr mit eigenen Worten erklären, was euch von anderen Bands unterscheidet ?
Da fallen mir zuerst zwei Unterschiede ein: Erstens haben wir überhaupt keine Berührungsängste, das heißt unsere Quellen und Inspirationen kommen nicht nur aus dem Prog Pool, aus dem jeder mehr oder minder schöpft, sondern aus einem viel größeren Bereich. Wir hören, jeder für sich, sehr unterschiedliche Musik und treffen uns immer wieder bei den unsterblichen Proggern. Konkret: Melli mag Punk und Grunge sehr gern, Hans hat einen leichten Heavy Einschlag, Michael interessiert sich für Modern Jazz, Claus ist reinrassiger Progger mit Jazz Ausflügen und Matthias konzentriert sich mehr auf Klassik. Wenn man das zusammenmischt, kommt auf jeden Fall ein Arrangement raus, das irgendwie anders ist. Das Beste aus allen Welten ist die Devise. Die zweite Geschichte ist, daß wir irgendwie musikalisch um die Ecke denken und das wird uns oft von befreundeten Musiker bescheinigt. Manchmal ist das eher anerkennend gemeint, manch ein Mainstream Rocker meint das mehr abwertend. Jedenfalls haben wir schon oft krampfhaft versucht, ein "ganz normales" Thema ganz normal zu verarbeiten und es hat bisher fast nie hingehauen. Das heißt nicht, daß wir keine griffigen Grooves spielen oder schreiben könnten, sondern daß alle Grooves in etwas völlig anderes führen müssen, damit wir uns mit einer neuen Nummer gut fühlen. Abwechslung, Spannung, Aufmerksamkeit erregen und erhalten, das sind so die Merkmale. Und es muß ja, nicht zuletzt, auch für uns als Musiker eine Herausforderung sein. Jede neue Nummer muß einen neuen Aspekt haben und wer unsere Musik länger verfolgt hat weiß, was ich meine. Wir sind ununterbrochen in Bewegung. PALE entwickelt sich ständig weiter. Also, was uns von anderen unterscheidet: Eine verrückte Bandbreite von verarbeiteten Einflüssen und "Entwicklung ist Bewegung - Stillstand ist Ödnis".
? Ungewöhnlich ist auch das Line-up mit zwei Lead Sängerinnen. Wie seid ihr drauf gekommen ?
Ganz ehrlich? Gar nicht. Ganz in den Kinderschuhen hatte die Band, die später PALE geboren hat einen Sänger, dann hatten wir eine Sängerin, dann hatten wir zwei Sängerinnen und einen Sänger, und so weiter. Bis eben nach einiger Zeit ESTHETIC PALE daraus wurde. Zwei Lead Sängerinnen oder generell zwei verschiedene Charaktere wollten wir am Mikro sowieso, weil unsere Musik viele Stimmungen abdeckt und damit nach verschiedenen Stimmen verlangt. Und mit Melli, die ursprünglich die lyrischen und balladenhaften Sachen gesungen hat, hatten wir eine Sängerin, die "Käse zum Schmilzen" bringen kann. Es lag also nahe, eine Stimme zu suchen, die den härteren Part bedienen kann. Und das war zu dieser Zeit eben Anja. Inzwischen ist Melli auch etwas aggressiver unterwegs und singt rockigere Titel. Und seit uns Anja wegen persönlichen Differenzen verlassen hat, sind wir wieder auf der Suche nach einer Dame (oder einem Herrn) die diese Musik mag und PALE ergänzt.
? Eure Musik wird allgemein als Progressiv-Rock bezeichnet. Was versteht ihr unter dem Begriff "progressiv"?
Klasse Frage. Progressiv heißt fortschrittlich, aber der Progressiv-Rock ist eher anachronistisch. Ursprünglich stammt dieser Begriff von der Plattenindustrie, um dem leise erwachenden Interesse der CD Käufer an anspruchsvollerer Rock Musik eine Schublade zu verpassen. Eigentlich hätten die das auch Anachronismus-Rock nennen können, aber das wäre dann marketingmäßig negativ besetzt gewesen. Es ist wie immer: ohne Namen wird nix gekauft. Nur wo Prog drauf steht ist auch Prog drin. Ich glaube, die Bezeichnung Art Rock oder auch Symphonic Rock kommt der Sache viel näher und beschreibt auch gleich, mit was man es da zu tun kriegt. Art Rock gleich Kunst Rock, also wird es wohl etwas anspruchsvoller sein, die Titel werden etwas länger sein, die Themen werden etwas mehr sein, eventuell wird's eine Aussage haben oder womöglich eine Botschaft, jedenfalls ist es nicht nach Techno Muster zu konsumieren - so aufreißen - ex und hopp. Man sollte sich damit einfach auseinandersetzen. Wer heute noch regelmäßig Yessongs hört, weiß was ich meine: das wird mit den Jahren immer besser.
? Die Bandbreite eurer Musik ist äußerst vielfältig. Was sind die Haupteinflüsse ?
Die Haupteinflüsse ? J.S. BACH, LUIGI NONO, HELGE SCHNEIDER, GYÖRGY LIGETI, FRANZ LAMBERT und, nicht zu vergessen : die BACKSTREET BOYS. Aber mal ernsthaft, wie vorhin schon gesagt, wir verarbeiten alles, was uns irgendwie inspiriert. Das kann heute die H-Moll Messe sein, dann LAUREENA MCKENNITT, morgen SPOCK'S BEARD und dann ALBERT MANGELSDORFF. Ich glaube, je mehr gehaltvolle Musik man einfließen läßt, desto besser wird das Spektrum und desto spannender ... aber das sagten wir wohl schon.
? Werden die Songs ausschließlich von Matthias (guit) und Claus-Peter (keys) geschrieben oder sind alle Bandmitglieder beteiligt ?
Die Antwort ist: Ja. Sowohl, als auch. Claus und Matthias schreiben den ganzen Kram, aber alle arrangieren, verbessern, kritisieren, schlagen vor und nölen rum. Deshalb steht auf jedem Tonträger, der von uns kursiert immer "Arranged by ESTHETIC PALE" drauf. Das soll ausdrücken, daß jeder seinen Anteil an jedem Song hat.
? Die Lieder sind doch auch sehr persönlich und spiegeln eure Gefühle wider ?
Na logisch, wovon soll man schreiben, wenn nicht über Dinge, die man selbst erlebt hat. Das gilt besonders für Esthetic Pale (den Titel) wo ich beschrieben habe, wie man sich fühlt, wenn man nach einer eher heftigen Nacht morgens aufwacht und eine ganz diffuse aber düstere Vorahnung hat, daß irgendwas auf einen zukommt, was bedrohlich ist. Ich glaube, das hat jeder schon mal erlebt, daß man plötzlich Angst kriegt und nicht weiß wovor. Und mir ist das eben morgens direkt nach dem Aufwachen passiert. Was Between you + me angeht; wenn die Frau, um die es geht, die Nummer hört, kriege ich wahrscheinlich Ärger. Aber die wohnt weit weg und hört prinzipiell keine Progger - Schwein gehabt. Und selbst Sachen wie die Fairies passieren. Ich glaube, es ist einfach eine Frage der Phantasie. Doch, je mehr ich drüber nachdenke; ich erlebe, worüber ich schreibe. Außerdem muß ein Lied immer ein Gefühl oder eine Situation spiegeln, weil sich sonst kaum was eignet, um drüber zu schreiben. Was sind die besten Titel: Liebeslieder, oder? Und schönen Dank auch, daß du mal nach den Texten gefragt hast. Meiner Meinung nach eine leider unterbewertete Kunst. Ich höre immer auf die Texte von Titeln, die mir gefallen und habe da schon manche tolle (und manche erbärmliche) Überraschung erlebt. Eine der tollen Überraschungen waren übrigens immer die Texte von Peter Sinfield, der für KING CRIMSON und EMERSON, LAKE + PALMER geschrieben hat. Texte sind, besonders in Deutschland, wo man "das englische Zeug ja sowieso nicht versteht" eher ein Stiefkind. Schade eigentlich.
? In Neustadt/Weinstr. seid ihr sehr bekannt. Wie sieht es mit dem Rest des Bundesgebietes aus ?
Tja, dürftig. Vielleicht bringt euer Interview ja, daß mal jemand auf uns aufmerksam wird, der uns weiterhelfen könnte. Es gibt viele Festivals, auf denen wir gern spielen würden. In Harlingen oder in Kopenhagen. Und so abwegig ist das ja gar nicht, denn immerhin spielt da immer ein Haufen kleiner deutscher Prog Bands. Und warum nicht mal PALE? Aber der Prog Markt in Rheinland-Pfalz ist schon sehr dünn. In den Großstädten scheint das Interesse jetzt etwas größer zu werden, wahrscheinlich hängt das mit Schlaghosen- und Plateauschuhrevival zusammen. Aber bis das in die Provinz durchgedrungen ist ...
? Wie hat sich die eigenfinanzierte und eigenvertriebene CD bundesweit verkauft (Erfolg, Resonanzen, etc.)?
Verkauft hat sich die CD bis jetzt erstaunlich gut. Besonders auf der Prog-Con in Aschaffenburg. Da haben wir mal eine Kiste voll mitgenommen und die Leute reinhören lassen. Nach vier Stunden war die Kiste leer und wir mußten aufschreiben, wo wir die nächsten hinschicken sollen. In Heimspiel-Gegenden wußten wir natürlich, wer die CDs kauft. Was uns aber fehlt, ist eine Promotion, die uns über den Tellerrand raus bekannter macht und das größere Prog-Publikum interessiert. Was die Resonanz angeht: Alle möglichen Fach-Blätter und Szene Magazine haben unsere neue CD getestet und für gut befunden. Wir kriegen eigentlich immer prima Kritiken, ob live oder auf Konserve. Im Jester's News haben wir ja auch gut abgeschnitten. Was uns also fehlt ist ein bißchen das Interesse der Leute, die z.B. einen Vertrieb haben.
? Warum glaubt ihr, haben die meisten Labels eine gewisse Angst, euch unter Vertrag zu nehmen ?
Soll das ein Witz sein? Labels sind Unternehmen der Wirtschaft. Die scheren sich, bis auf ganz wenige ruhmreiche und enthusiastische Ausnahmen, keinen Deut um Leute, die Musik aus Überzeugung machen und auch dahinterstehen. Veröffentlicht wird, was dem Zeitgeist entspricht, das kann sogar mal Prog sein, und was einen Haufen Käufer mit einem Haufen Kohle findet. Verständlich ist das ja, die wollen eben Geld verdienen, aber irgendwie sollte eine Label auch ein bißchen kulturelle Verantwortung tragen. Huch, wie hochtrabend. Außerdem entwickelt sich der Prog-Rock im Moment sehr stark in die Heavy Ecke. Und da sind wir nicht gerade zu Hause. Jedenfalls sind wir noch zu haben und Interessenten können sich an uns wenden. (Die Adresse kann bei der Redaktion von Jester's News erfragt werden).
?Wie sieht es mit Liveauftritten bundesweit (bzw. außerhalb der Weinstr.) aus ?
Wie ihr wißt ist der Markt für Prog unseres Zuschnitts eher klein und damit gibt es für unserer Musik im Moment nur ein überschaubares Publikum. Dementsprechend sind wir noch nicht sehr weit rausgekommen, aber wir sind immerhin von Asgard zu einem Gig nach Mailand eingeladen worden, der dann leider nicht geklappt hat und haben unseren treusten Fans in der Dresdner Gegend schon lange ein Konzert vor ihrer Haustür versprochen. Also wäre schon Bedarf da, aber welcher Hamburger Veranstalter würde eine Band namens ESTHETIC PALE buchen, von der er noch nie was gehört hat. Auch die Veranstalter müssen nach Erfolgszahlen leben. Es läuft immer auf dasselbe raus: Promotion und Vertrieb, Management und Label. Wenn wir jemand hätten, der sich professionell um uns kümmern würde, hätten wir bestimmt in relativ kurzer Zeit einen besseren Bekanntheitsgrad erreicht. Außerdem gibt es gerade für unsere Musik ein Publikum, nur kommen Publikum und PALE im Moment noch nicht so richtig zusammen. Ich meine, bei Heimspielen ist das natürlich anders. Trotzdem würde es natürlich einen Riesenspaß machen, mal im Star Club oder im Madison Square Garden zu spielen.
?Last not least, ich würde eurer Musik auch einen ernsten Charakter zuordnen. Als wir uns aber auf der Prog-Rock-Convention kennengelernt haben, wart ihr ziemlich locker und lustig. Wie charakterisiert ihr euch selbst?
Was hast du erwartet? Grübelnde Trauerklöße, die ununterbrochen Philosophisches vor sich hin murmeln? Gib zu, wenn du uns erst kennengelernt hättest, nachdem du die CD gehört hast, hättest du düstere Gestalten in schwarzen Klamotten erwartet. Tatasache ist, daß beide Seiten wahr sind. Unsere Musik ist zwar eher ein bißchen düster, aber du solltest uns mal im Proberaum erleben ... Vielleicht lebt das eine vom anderen. Außerdem gibt es kein Gesetz, das vorschreibt, daß Progger nicht albern sein dürfen. In unseren Nummern stecken auch jede Menge Anspielungen, die eigentlich nicht ernst gemeint sind. Und der letzte Titel von Claus (Laura) beschreibt die Zeit vor und nach der Geburt seiner Tochter. Das ist doch was ausgesprochen Fröhliches. Meistens ist Claus überhaupt der, der die fröhlicheren Sachen schreibt und Matthias ist für den düsteren Kram zuständig. Das liegt am Charakter, deshalb ist Claus der Ruhigere und Matthias der Albernere. So gleicht sich das alles wieder aus. Aber direkt zur Frage: Charakterisieren kann man PALE nur über die Charaktere, die die Band ausmachen und die sind eigentlich, bis auf die Tatsache, daß wir alle reichlich spaßig unterwegs sind, völlig verschieden. Bis auf Melli, die ist nicht so verschieden (Ein Scherz).
?Wollt Ihr sonst noch etwas loswerden, was euch am Herzen liegt?
Was wir noch auf dem Herzen haben ist, daß wir, wie schon gesagt, eine neue Sängerin suchen. Und das dringend. Wer also Lust hat bei PALE, zusammen mit Melli, die erste Geige zu spielen, kann sich gern und sofort bei uns melden! Natürlich wäre auch ein Sänger prima, Hauptsache, sie oder er mögen die Musik, die wir machen, und hat ein bißchen Erfahrung. Außerdem wären wir, wie gesagt, sehr interessiert an einem Label, das uns promotet. Und natürlich an den schon nachgefragten bundesweiten Gigs.
Und wir haben noch ein Angebot an andere Progger im ganzen Bundesgebiet und darüber hinaus: Von Zeit zu Zeit treten wir mit ein paar Freunden auch als Veranstalter auf. Wenn eine Band an Gigs in unserer Region Interesse hat, könnten wir einen gemeinsamen Auftritt organisieren. Im Gegenzug dazu organisieren die dann bei sich zu Hause auch einen Gig. Die auswärtige Band spielt jeweils als Opener, die hiesige als Hauptact. So kommt man mal raus aus seiner Region, findet neue Freunde und vielleicht sogar Fans oder A&R Manager. So, tschüß, mehr gibt es nicht ...
Wolfgang Volk (01.09.1997)